Beitrag im DUMMY Magazin

Der Idiotentest

Oliver Rabbat – Cannabis Anwalt für DUMMY – Dummheit

Es gibt kaum etwas Dümmeres als die deutsche Drogengesetzgebung: Wer vor zwei Wochen gekifft hat, kann heute den Führerschein verlieren. Über den Irrsinn, wie der Staat ohne Not junge Menschen kriminalisiert

Von Arno Frank

Der Krieg gegen die Drogen ist ein Weltkrieg. Er kostet Milliarden und Millionen, Dollar und Menschenleben, und kennt nur Verlierer. Seine Fronten verlaufen nicht nur im fernen Mexiko, im Hindukusch oder im Atlas. Sie verlaufen quer durch die Gesellschaften des Westens. Marvin Schmidt, 23, wird den Abend nie vergessen, als er ins Fadenkreuz geriet und unter Beschuss genommen wurde.
Am 13. Januar 2017 war das, in Neu-Isenburg südlich von Frankfurt, 37.000 Einwohner in der Einflugschneise des nahen Flughafens. Marvin hatte einen Abend mit Freunden verbracht und war auf dem Weg nach Hause. Ein unauffälliger junger Mann in einem unauffälligen Auto in einem unauffälligen Viertel. Einfamilienhäuser mit Gärten, nicht zu groß, nicht zu klein, ein Polizeirevier direkt um die Ecke. Und dort, direkt vor seinem Ziel, wird Marvin Schmidt kurz vor 22 Uhr routinemäßig kontrolliert. Was eben so „routinemäßig“ heißt. Fragt man einen Polizisten, dann sagt der: „Es gibt Kollegen, die haben ein Auge für bestimmte Kandidaten.“ Fragt man den spezialisierten Anwalt Oliver Rabbat, dann sagt der: „Verdächtig ist jeder junge Mann zwischen sechzehn und dreißig Jahren.“ 
Er ist nicht gerast und nicht gekrochen, auch keine Schlangenlinien gefahren. Sein Fahrzeug ist kein in psychedelischen Farben und mit Cannabispflanzen bemalter VW-Bus, aus dem Reggae dröhnt. Er sitzt still im Mitsubishi Lancer seiner Mutter. Dennoch hatten die Beamten ihn wohl im Auge. Heute räumt er ein, sich vielleicht so verhalten zu haben wie jemand, der Grund zur Sorge hat: „Das war bei mir schon immer so. Wenn ich Polizisten sehe, macht mich das nervös. Außerdem habe ich ständig leicht gerötete Augen“, sagt er und öffnet die Augen ganz weit. Tatsache. Gerötet. 
Gekifft hat er zum Zeitpunkt der Kontrolle seit dreizehn Tagen nicht mehr. Sonst schon mal gern, einen Spliff zur Entspannung am Abend, an Wochenenden auch mal mehr. Nun aber stehen Prüfungen an, und Marvin hat deshalb zu Neujahr an seinem letzten Joint gezogen. Silvester halt. Seitdem bereitet er sich klaren Kopfes auf seine Prüfungen vor und treibt Sport. Er ist Künstler, jongliert, geht auf Stelzen. Er fühlt sich fit, hat abgenommen. Und er ist nüchtern. Deshalb verweigert er die Urinprobe: „Ich hab’s nicht eingesehen.“ Er hat verantwortungsvoll gehandelt und will wie ein verantwortungsvoller Bürger behandelt werden. „Trunkenheit am Steuer“ nennt es der Gesetzgeber, wenn ein Fahrer unter dem Einfluss rauschfördernder Substanzen steht. Ganz egal, ob das nun Alkohol oder Tetrahydrocannabinol (THC) ist. Marvin Schmidt würde sich, wie jeder vernünftige Mensch, in einem solchen Zustand niemals hinter das Steuer setzen. 
Er redet mit den Beamten, und vermutlich sagt er das Falsche. Fragt man den Anwalt, dann sagt der: „Sprechen Sie niemals mit den Polizisten. Niemals! Das sind nicht unbedingt die netten Ermittler, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Aber wie im Fernsehen kann alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden.“ Fragt man den Polizisten, wiegt der den Kopf und lächelt. 
Gegen Schmidt spricht aus Sicht der Polizei, dass er bekannt ist. Auf einem Festival ist er mal von Zivilfahndern mit Gras erwischt worden, wesentlich weniger als die in Hessen zulässige Menge von sechs Gramm „für den Eigenbedarf“. Zur Anwendung kam Paragraf 31a des Betäubungsmittelgesetzes, eine Absehung von der Strafverfolgung wegen Geringfügigkeit. Allerdings ist anzunehmen, dass er damit im Datensystem der Polizei vermerkt ist und es die Behörden mit ihrer gesetzlichen Löschpflicht nach einer gewissen Frist nicht allzu genau nehmen. An diesem Abend also ordnen die Beamten, weil ihr „Kandidat“ den Urintest verweigert und auch andere kognitive und motorische Schnelltests nicht mit olympischen Ergebnissen absolviert, eine Blutuntersuchung an. „Der Staatsanwalt hat das einfach so durchgewunken“, sagt Schmidt. Die Polizisten bringen ihn nach Frankfurt, weil in Neu-Isenburg kein Arzt mehr aufzutreiben ist. Um Mitternacht setzt eine Ärztin die Nadel an. 
Der Bescheid kommt ein paar Wochen später. Aktives THC wurde natürlich nicht gefunden. Wie auch? Schmidt war nicht bekifft. Es gibt, anders als zu Alkohol, bisher nicht viele Studien zu Cannabis. Weil vernünftige Studien umfangreich sein müssen und der Stoff illegal ist. Was man weiß: Unmittelbar nach einem Joint befinden sich etwa 200 Nanogramm in einem Milliliter Blut, nach zwei Stunden sind es noch immer fünf bis zehn Nanogramm. Gefunden wurde im Blut von Marvin Schmidt allerdings ein Nanogramm einer speziellen Carbonsäure (THC-COOH), von deren Blutpegel auf den Konsumgrad eines Konsumenten geschlossen wird. Dieser Stoff baut sich mal schneller, mal langsamer ab. Weil er im Fettgewebe gespeichert wird, gerät er bei Abbau dieses Gewebes oder unter starkem Stress wieder ins Blut – ohne dort irgendwelche Wirkungen zu entfalten, die Feinmotorik oder Wahrnehmung auch nur ansatzweise stören könnten. Ein Nanogramm THC-COOH gilt als „Nachweisgrenze“. Alle Konzentrationen darunter sind wegen ihrer Winzigkeit nicht mehr belastbar. 
Nach ein paar Wochen bekam Marvin Schmidt einen Bußgeldbescheid. Zusammen mit der Blutentnahme und den Verfahrenskosten belief sich der Spaß auf runde 700 Euro. „Das war auch schon ungerecht“, sagt er, „weil ich nicht bekifft gefahren bin. Aber die wahre Streckbank kam dann noch.“ 
Fragt man den Anwalt, dann klamüsert er das auseinander. Erstens gebe es den gewohnheitsmäßigen Kiffer, „der verliert den Führerschein sofort, auch ohne Bezug zum Autofahren“. Zweitens gibt es den gelegentlichen Kiffer, der „mal an einem Joint zieht“ und auch seinen Führerschein verliert, wenn er mit einem Nanogramm erwischt wird. Drittens gibt es den Probierkonsumenten, „der nur ein einziges Mal in seinem Leben“ Cannabis konsumiert hat, aus Neugier vielleicht, und ausgerechnet dann – „So ein Pech!“ – erwischt wird: „Die ärztliche Untersuchung dient nur dazu, die Hypothese des Probierkonsums zu widerlegen“, sagt der Anwalt.
Für Marvin Schmidt kam die Streckbank ein halbes Jahr nach dem Bußgeld per Post und in Form einer Aufforderung der Fahrerlaubnisbehörde. Bis zu einem bestimmten Termin habe der Delinquent den Nachweis einer erfolgreichen Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU, vulgo: „Idiotentest“) beizubringen – ansonsten sei der Führerschein weg. Die Frist würde am 31.12. verstreichen, Schmidt blieben dafür noch drei Monate. Der Witz: „Ich musste für dieses Gutachten ein Jahr völliger Abstinenz vorweisen“, was gar nicht möglich war. Eine Falle. Eigentlich sogar: ein Überfall. Der Führerschein war also in jedem Fall weg: „Und darauf bin ich angewiesen. Ich arbeite als Jongliertrainer, mache Shows und so, bin viel unterwegs.“ Und das war erst der Anfang des behördlichen Irrsinns.
Bei der MPU saß er mit Leuten zusammen, die sich wirklich etwas hatten zuschulden kommen lassen: „Es kann nicht sein, dass Leute, die völlig bekifft Auto fahren, das Gleiche machen müssen wie ich.“ Insgesamt (Vorbereitungsseminare für die MPU, sechs Urintests, Antrag auf Neuausstellung des Führerscheins und, und, und) kostete ihn das Vergnügen, nicht bekifft Auto gefahren zu sein, mehr als 3.000 Euro – Verdienstausfälle nicht einmal eingerechnet. Absurdes Theater. Und eine Dummheit, weil der Staat mit solchen Methoden unbescholtene Bürger wenn nicht kriminalisiert, so doch stigmatisiert. Hinter dieser Praxis stecken, nach Einschätzung des Anwalts, vor allem finanzielle Interessen. Die Einnahmen gehen in die Millionen, und auf Einnahmen verzichtet keine Behörde freiwillig. Er selbst, sagt der Anwalt, hat im Straßenverkehr „mehr Angst vor den Rentnern, die es nicht mehr richtig können“. Aber diese Gruppe darf noch dement hinters Steuer, weil sie einfach eine zu relevante Wählergruppe ist. 
Gäbe es ähnliche Tests zum Nachweis von Abbauprodukten des Alkohols, so würden auch die wohl kaum zur Anwendung gebracht werden. Wer trinkt, muss anderntags nüchtern am Steuer sitzen. Wer kifft, hat generell das Recht auf Führen eines Fahrzeugs verwirkt. Fragt man den Polizisten, dann sagt er das auch genau so: „Es ist ein Vorrecht, Auto fahren zu dürfen, das muss man sich erarbeiten.“ Die charakterliche Eignung, auf die er damit anspielt, wird selbst dem gewissenhaften und gelegentlichen Cannabiskonsumenten abgesprochen. Kiffer haben keine Lobby. Sie kann man schröpfen, auch wenn sie nachweislich nicht bekifft gefahren sind. Über die obrigkeitsstaatlichen Ideen, die hier nachschwingen, mag man lieber nicht zu sehr nachdenken. Der Anwalt tut es trotzdem: „Das ist Dreißigerjahre!“, hier wolle sich der Staat einen Idealbürger erziehen.
Stand der Dinge ist eine Empfehlung führender Experten auf dem jüngsten Verkehrsgerichtstag in Goslar, den Grenzwert wenigstens auf drei Nanogramm heraufzusetzen. „Aber die Regierung hat im Moment wohl Wichtigeres zu tun“, sagt der Anwalt. Im Rechtsstaat sollte alles der Verhältnismäßigkeit unterliegen, hier aber fehle das Augenmaß. Auf absehbare Zeit werde sich daran nichts ändern.
Marvin Schmidt hat seine Lehren gezogen. Er weiß jetzt, was von diesem Staat zu halten ist. Und er wird sich das merken. „Ich kiffe gar nicht mehr“, sagt er zum Abschied und sieht dabei eher wütend als geläutert aus: „Es ist einfach zu gefährlich, ich will das nicht mehr riskieren. Das immerhin haben sie geschafft.“